Bereits 1994 erkannte die Politik in Estland die Bedeutung der Digitalisierung und begann, die Grundprinzipien einer modernen Informationsgesellschaft zu etablieren. Heute sind rund 99 Prozent der Verwaltungsvorgänge digitalisiert. Persönliches Erscheinen ist nur noch bei besonderen Anlässen wie Heirat, Scheidung oder Immobilienkauf erforderlich. Sogar das Wählen kann bequem von zu Hause aus mit einer digitalen ID-Karte erfolgen. Und wie sieht es in estnischen Schulen aus?

Wie sieht digitale Schule in Estland aus? 

Auch im Bildungssektor setzt Estland auf digitale Effizienz. Seit 2002 nutzen Lehrkräfte das digitale Klassenbuch eKool (dt.: e-Schule), um Hausaufgaben zu stellen, Noten und Absenzen zu dokumentieren und sich mit Eltern auszutauschen. Eine Studie zeigte, dass Lehrkräfte durch eKool die Hälfte der Verwaltungsarbeit einsparen – das entspricht täglich 45 Minuten. Ein Computer am Lehrerpult und ein Beamer oder Smartboard sind Standardausstattung in jedem Klassenzimmer. Schulen beschäftigen zudem Bildungstechnologen, die Lehrkräfte beim Medieneinsatz unterstützen und die Wartung der Geräte übernehmen. Nahezu alle beobachteten Lehrkräfte scheinen im Umgang mit digitalen Medien geübt zu sein (Brand, A.).

Estland zeigt somit eindrucksvoll, wie die konsequente Umsetzung der Digitalisierung das öffentliche Leben und das Bildungssystem effizienter und moderner gestalten kann.

Digitale Lehrmittel: Der Schlüssel zum Erfolg in Estlands Schulen

Der Schlüssel zum Erfolg liegt allerdings nicht in erster Linie am Einsatz des digitalen Klassenbuchs. Vielmehr sei die Digitalisierung von Schulbüchern eine Schlüsselkomponente für den digitalen Unterricht. Die estnische Politik hätte es geschafft, mit dem Programm «e-Schulranzen» die Digitalisierung von Schulbüchern für digitalen Unterricht voranzutreiben. Zentral ist dabei die Lernplattform OPIQ –  õpik (estnisch für Schulbuch), welche von allen grossen Verlagen genutzt wird, um ihre Inhalte zu digitalisieren. 

 

Quelle: https://www.opiq.ee/Search/Kits

Mit dem Programm erhalten Schüler*innen Zugang zu digitalen Lernmaterialien, E-Textbüchern und Bildungs-Apps. Alle Schüler*innen haben ein persönliches Konto, das es erlaubt auf interaktive Lerninhalte zuzugreifen. Lehrkräfte können Inhalte und Aufgaben wie eine Playlist zusammenstellen, Hausaufgaben senden und über die Plattform benoten, diese Aspekte unterstützen das individuelle Lernen. Alexander Brand spricht in diesem Zusammenhang von der «Spotify-Strategie». Anstelle von Songs, können Lehrpersonen passende Inhalte und Aufgaben aus verschiedenen Lehrmitteln auswählen und ihren Klassen wie eine Playlist mit Aktivitäten zusammenstellen. Ein weiterer Vorteil der Initiative ist die Reduktion von gedruckten Materialien – die Lernumgebung wird nachhaltiger. 

Brand ist Lehrer an einer Hamburger Gesamtschule und Redakteur für das Deutsche Schulportal. Während fünf Monaten war Brand unterwegs und besuchte leistungsstarke Schulen aus den PISA-Ländern Finnland, Estland, Japan und Singapur. Seine Erkenntnisse teilt er auf seiner Homepage sowie im Deutschen Schulportal. Während des Besuchs in Estland erklärt Antti Rammo, CEO des Start-ups Star Cloud, dass die digitale Mediennutzung an estnischen Schulen anders als erwartet nicht besonders hoch ist. Star Cloud betreibt die Lernplattform OPIQ, die die Digitalisierung der meisten estnischen Schulbücher vorantreibt. 

Obwohl das Digitale sehr wohl zur estnischen Identität dazugehöre, sei die tatsächliche Nutzung im Unterrichtsalltag nicht besonders hoch. Die Schulbesuche von Brand bestätigten das, zumindest teilweise: Zur Klassenzimmerausstattung gehörten stets ein PC am Lehrerpult, ein Beamer oder Smartboard und WLAN, doch ein weit verbreiteter Einsatz von digitalen Medien wie Laptops oder Tablets blieb aus.

 

Der Spotify-Strategie liegen zwei Prinzipien zugrunde: Wahlfreiheit und Wettbewerb. In den meisten Ländern entwickelt jeder Schulbuchverlag eine hauseigene Plattform für seine Schulbücher und Schulen entscheiden sich für einen Verlag bzw. dessen digitales Angebot. Wenn ein Kapitel im Schulbuch von schlechter Qualität ist, bleiben einer Lehrkraft kaum digitale Alternativen. Nicht so in Estland.

Ein entscheidender Faktor für den Erfolg dieser Strategie ist laut Brand, dass alle Schüler*innen und Lehrpersonen von der ersten bis zur neunten Klasse kostenlosen Zugang zu digitalen Schulbüchern in allen Fächern haben. Das Bildungsministerium übernimmt die Kosten. Ein weiterer entscheidender Faktor ist, dass die Schulbuchverlage nach tatsächlicher Nutzung bezahlt werden, wodurch ein kontinuierlicher Wettbewerb um die besten Inhalte entsteht.

Und in der Schweiz?

In der Schweiz sind nach wie vor analoge Lehrmittel Standard. In einer Umfrage gibt nur ein Fünftel der Befragten an, täglich digitale Lehrmittel zu nutzen. Zudem haben einige Schulen bei der Internetverbindung Nachholbedarf (vgl. Netzwoche). 
Ein Grund für den Rückstand ist die Komplexität des Schweizer Bildungssystems mit seinen vielen Beteiligten, die alle mitreden wollen und sollen. Deshalb dauert es Jahre, um ein Lehrmittel zu entwickeln. Ob es dann digital ist, hängt von der Definition ab (vgl. SRF).

Lehrmittel-Verlage fahren zweigleisig: Zukunft vermehrt digital

Um allen Bedürfnissen gerecht zu werden, bieten die Lehrmittel-Verlage ihre Materialien sowohl in gedruckter als auch in elektronischer Form an. Die meisten Schulen bevorzugen jedoch weiterhin die analogen Versionen. Beim Zürcher Lehrmittelverlag bestellen etwa 80 Prozent der Schulen und Lehrpersonen – abhängig vom Produkt – gedruckte Lehrmittel. 

Viele Verlage wählen derzeit die digitale Ausgabe eines Lehrmittels, wenn es pädagogisch sinnvoll ist. Künftig wird die digitale Form wahrscheinlich dominieren, und gedruckte Bücher werden nur noch ergänzt, wenn es pädagogisch sinnvoll ist.

Wie ist es bei dir? Verwendest du digitale Lehrmittel im Unterricht? Wenn nicht, was müsste deiner Meinung nach verbessert werden? Teile deine Meinung in den Kommentaren.

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Adresse

PHBern
Netzwerk Digitale Transformation
Think Tank Medien und Informatik
CH-3012 Bern

Kontakt

ttim@phbern.ch
+41 31 309 28 95